Am nächsten Tag stand also das Sufjan-Stevens-Konzert an, auf das ich mich genauso sehr gefreut habe wie auf die Konzerte von Joe Pug. Vorher galt es aber noch viele Stunden totzuschlagen. Ich bin schon relativ früh aufgestanden, da Rosi mal wieder die halbe Nacht geschnarcht hat und an Schlaf nicht mehr zu denken war. Eine Bettnachbarin, Jess, hatte versucht, Rosi durch Husten zu wecken, in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht umdreht, aber vergeblich. Umso wacher war sie dafür nachdem Frühstück, sodass sie sich an meine Fersen heftete und mich volllaberte, während wir zur Bushaltestelle gingen. Ich entschuldigte mich, dass ich noch zum Coles müsste um Wasser zu kaufen (und um von ihr wegzukommen), was jedoch erstmal eine weitere Diskussion provozierte, warum ich denn kein Leitungswasser trinken würde, Rosi konnte den Chlor nämlich nicht schmecken.
Da ich die Innenstadt wie gesagt abgegrast hatte, habe ich mich auf den Weg nach Coogee gemacht. Dort gibt es einen Wanderweg an der Küste entlang, der zum Bondi Beach führt, der Malibu Beach von Australien, an dem die ganzen Party People abhängen und an dem auch ein Baywatch-Verschnitt gedreht wird. An sich hätte ich auch auf Bondi verzichten können, aber der Küstenwanderweg wurde mir sehr empfohlen, also habe ich ihn auf die Liste gesetzt.
Nach Coogee zu fahren dauerte länger als erwartet. Den ÖPNV in Sydney kann man echt vergessen. Zum einen ist er superteuer, ein Tagesticket z.B. kostet sagenhafte 20 Dollar (!), und zum anderen ist er total unübersichtlich, was die ganzen Tarifzonen anbelangt. Wenn man ein Ticket kauft (die man praktisch nur in Newsagencies bekommt) sagt man am besten, wo man hin will, denn alleine hat man praktisch keine Chance herauszufinden, wie viele Tarifzonen das sind. Noch so ein Punkt, wo mir Melbourne um Längen besser gefällt, da ist schließlich fast die gesamt Stadt eine Tarifzone in der man für eine Handvoll Dollar den ganzen Tag nach Belieben herumjuckeln kann.
Leider ließ das Wetter ziemlich zu wünschen übrig. Es war zwar recht warm, aber stark bewölkt, deshalb war Coogee Beach auch wie ausgestorben. Trotzdem habe ich mich gefreut, meinen alten Freund den Pazifik wiederzusehen. Jetzt war ich wirklich zweimal von Küste zu Küste gefahren; I had crossed that wild continent again, um es mit Jack Kerouac zu sagen. Der Wanderweg war ganz schön, wenn auch nicht total spektakulär. In Waverley gab es einen ziemlich großen Friedhof, der direkt an den Klippen lag. Der schönste Strand war vielleicht Bronte Beach, da er noch einigermaßen versteckt liegt, aber nicht so klein ist wie Tamarama. Trivia: Der Vorname Bronte ist überdurchschnittlich populär in New South Wales. Ich glaube ja, dass das weniger an einer Vorliebe für die Schrifsteller-Schwestern liegt als daran, dass die Kinder an eben jenem Strand gezeugt wurden.
Nach sechs Kilometern kam ich schließlich in Bondi Beach an, der wohl selten so ausgestorben war. Der Strand ist ziemlich groß, aber sonst kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum er so immens beliebt ist. Einen Grund gab es jedoch, warum ich dort vorbeischaute: Ich wollte einen frittierten Marsriegel essen. In Melbourne hatte mir eine Zimmergenossin, Julia, ihn empfohlen und seitdem wollte ich ihn unbedingt mal probieren. Auch wenn sich das total eklig anhört, soll es sehr lecker schmecken. Jedenfalls erzählte Julia, dass es am Bondi Beach eine Fischbude gibt, die auch frittierte Marsriegel verkauft (die hoffentlich nicht in demselben Fett frittiert werden wie der Fisch). Ich fand, dass ich mir die Kalorienbombe nach dem Spaziergang verdient hatte und machte mich auf die Suche nach der Fischbude, doch ich konnte sie nicht finden. Vielleicht meinte der Inhaber, dass es sich bei dem regnerischen Wetter nicht lohnen würde. So eine Enttäuschung!
Ich bin dann zurück nach Glebe gefahren, da ich mir vor dem Konzert noch hinlegen wollte, doch Rosi machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung. Sie redete mit sich selbst, sie summte vor sich, sie drehte den Wasserhahn auf - anscheinend war es ihr total egal, dass ich schlafen wollte. Warum ist es für manche Menschen so schwer, etwas Rücksicht zu nehmen? Fürs Abendessen war ich zu nervös; da ich noch etwas Zeit hatte, bin ich zu Fuß zum Opernhaus gegangen, was etwa eine Stunde gedauert hat. Ich war echt froh, dass ich mir in Townsville das schwarze Kleid gekauft hatte, denn das passte ganz gut zu diesem Anlass. Glücklicherweise schien auch wieder die Sonne, wobei sie um halb acht natürlich schon fast untergegangen war. Bevor es los ging, schaute ich von der Promenade des Opernhauses auf die Harbour Bridge und nach North Sydney, wo der Luna Park bunt leuchtete.
Das Opernhaus verfügt über mehrere Säle; dieser zumindest sah von innen wie ein normales Theater aus, also nicht ganz so spektakulär wie das Äußere des Hauses. Trotzdem war es schon irgendwie cool, dort zu sein und vor allem etwas zu sehen, dass mir wirklich gefiel. Nicht so wie die Leute, die sich dort eine Oper ansehen obwohl sie gar keine Opern mögen, nur um sagen zu können, dass sie mal im Sydney Opera House waren. Ich hatte mir Tickets der teuersten Kategorie schenken lassen, vordere Tribüne Mitte, da im Parkett schon alles ausverkauft gewesen war, obwohl ich bereits eine Stunde nach Vorverkaufsbeginn nachgesehen hatte.
Pünktlich um acht ging es los. Support war Owen Pallett, der mir, wie ich zugeben muss, bis dato völlig unbekannt war. Er hat mir aber sehr gefallen, und seine Musik hat sehr gut zum Rest der Show gepasst. Er hat Geige und Keyboard gespielt, wobei er zunächst immer einige Themen eingespielt hat, die dann wieder abgespielt wurden, bis sich alles zu einem symphonie-artigen Klangteppich vermengt hat. Seine Großmutter war übrigens Opernsängerin, daher wahrscheinlich der klassische Einfluss. Auf jeden Fall sehr schöne und überaus originelle Musik.
In de Pause unterhielt ich mich mit meinem Sitznachbarn, Chris, einem Krankenpfleger aus North Sydney. Er war echt nett und witzig, er erinnerte mich ein wenig an Jim. Trotzdem war ich froh, als es nach 20 Minuten weiter ging. 45 Minuten zwischen den Acts wie bei Joe Pug ist einfach viel zu viel. Ich kann gar nicht beschreiben wie überwältigt ich war, als Sufjan die Bühne betrat. Er ist einer meiner absoluten Lieblingsmusiker; ich kenne kaum jemanden, der so talentiert ist. Er spielt nicht nur um die 20 Instrumente, er schreibt auch die Texte, produziert selbst, vertreibt die Alben über seine eigene Plattenfirma und näht sogar die Showkostüme. Außerdem ist er in so ziemlich jedem Genre zuhause, sei es christlicher Folk wie auf Seven Swans, instrumentale Elektromusik wie auf Enjoy Your Rabbit oder Filmmusik, wie für The BQE (den er auch noch selber gedreht hat). Dazu kommt noch, dass ich ihn übelst attraktiv finde. Aufmerksamkeit hatte Sufjan durch seinen Plan erregt, über jeden amerikanischen Bundesstaat ein Album zu machen. Nachdem Michigan und Illinois erschienen waren, ließ er jedoch verlauten, dass das alles nur ein Scherz gewesen sei. 2010 erschienen die EP All Delighted People und kurz darauf das Album The Age of Adz, der kreative Höhepunkt seines bisherigen Schaffens.
Mit dabei hatte Sufjan ein zehnköpfige Band: 2 Backgroundsängerinnen, 2 Schlagzeuger, 2 Posaunisten, einen Pianisten, einen Keyboarder, einen Gitarristen und einen Bassisten. Das hat schon das zentrale Merkmal des Abends widergespiegelt: Exzess. Dazu kamen nämlich noch eine Leinwand, auf der Videos abgespielt wurden und eine ausgefeilte Lichtshow. Die Kostüme waren sehr, ähm, futuristisch, Sufjan in einem Anzug mit Neonstreifen, und während der Rest teilweise so aussah, als hätte er sich eine billige chinesischen Lichterkette mit Wackelkontakt umgehängt. Alles Anlehnungen an die Werke von Royal Robertson, jener schizophrene Künstler und Weltuntergangsprophet, der Sufjan zu dem Album inspiriert hat.
Der erste Song war `All Delighted People`, der zum Teil auf Simon & Garfunkels `The Sound of Silence` basiert. Die Musiker gingen gleich richtig in die Vollen, sodass bei der Zeile `All delighted people raise your hands` nicht nur die Band, sondern auch das Publikum die Hände hob. Insgesamt gab es relativ wenig Unterschiede zwischen den Album- und den Liveversionen, ich war ja gespannt gewesen, wie er so komplexe Songs live umsetzt. Man kann höchstens sagen, dass es live noch etwas `mehr` war als auf Platte: lauter, dissonanter und, na ja, durchgeknallter. Die Show war auf jeden Fall ein wichtiges Element, es war sozusagen ein echtes Gesamtkunstwerk: Die Pseudo-Choreographie (die eher so aussah, als sei es eine Parodie auf Spears und Timberlake und Konsorten), die Videos mit Royals Bildern, die blinkenden Lichter, die rhythmische-Sportgymnastik-Bänder, riesige Papier-Diamanten, das wirkte wirklich fast wie `from outer space`.
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