Gestern und heute habe so viel über die Leute hier erfahren, dass ich mich inzwischen um ein Vielfaches mehr angekommen fühle als vorher. Wie die unterschiedlichen Ethnien tanzen, eher mit den Füßen, eher mit dem Oberkörper und so weiter, welche Narben in ihrem Gesicht ihre Herkunft verraten, dass viele Cola nur zu festlichen Anlässen trinken.. Das Wochenende war wirklich eine Überraschung. Angefangen hat es zwar äußerst schlecht, danach hat es sich aber ziemlich gesteigert. Nachts hat es erstmal geschüttet wie aus Eimern. Es hat sich angehört, als würde jemand die Tropfen nicht nur vom Himmel fallen lassen, sondern mit aller Gewalt auf den Boden schmeißen. Als ich dann morgens aufgewacht bin, hat mir eine etwa fünf Zentimeter große Kakerlake Gesellschaft geleistet, die wie wild durch die Gegend gerannt ist. Das war aber nicht alles, das Vieh konnte sogar fliegen und ist immer wieder Türrahmen hochgekrabbelt, um sich danach auf den Boden zu stürzen. Mein todesmutiger Versuch, es mit einer Tasse einzufangen, hat sich leider in Gekreische aufgelöst. Stattdessen habe ich es im Bad eingesperrt und bin einfach gegangen. Meine zweite Zem-Fahrt zum Carrefour IITA war etwas matschig, da sich die Dreckstraße in dem Unwetter in eine Seenlandschaft verwandelt hatte. Das hatte zur Folge, dass die befahrbaren Bereiche noch weiter eingeschränkt und die Fahrt noch einen Tick aufregender war. Das genannte Carrefour ist eine Kreuzung an der soweit ich weiß größten (Verbindungs-)Straße hier. Beim Überqueren hat mir freundlicherweise ein Beniner geholfen, indem er mich einfach an der Hand genommen hat und mit mir zwischen den Autos und Motorrädern durch auf die andere Seite gerannt ist. Wer braucht schon Ampeln? Spuren oder Ähnliches gibt es schließlich auch nicht.
Um 10 war ich mit Roger verabredet, einem Beniner, den ich auf Elkes Party kennen gelernt habe und der mich auf seinem Motorrad von der Kreuzung erst mal auf einen Spaziergang durch Calavi mitgenommen hat. Was ich nicht wusste: Es gibt randonnées pédèstres und randonnées motorisées. Er dachte an eine Mofa-Tour, ich an einen Spaziergang. Am Ende haben wir beides gemacht und uns ein bisschen die Gegend angeschaut. Dabei hab ich mir alles verbrannt was man sich vorstellen kann, ich schlaues Kind. Den nacken, die Wangen, die Tränensäcke, die Ohren, die Lippen. Weit und breit war kein Schatten in Sicht und wir waren etwa bis 1 unterwegs. Danach haben wir uns mit Luca, einer Doppelmasterin, die für die belgische GIZ arbeitet, Hanne und Sanne, die ein dreimonatiges Praktikum in der Pädiatrie und Gynäkologie hier im Krankenhaus machen, ebenfalls Belgierinnen, Ann-Sophie, der Deutschen, die für die KFW arbeitet und Rufin, einem Freund von Roger und Ann-Sophie getroffen. Ich wusste nur, dass wir wohl im Nachbardorf in einer Herberge übernachten und das es schön sein soll. Schön ist aber gar kein Ausdruck. Ganvié ist ein Dorf, das zur Verteidigung gegen Feinde, die nicht schwimmen konnten, auf Pfählen errichtet wurde. Jeder, sogar ganz kleine Kinder, fährt in einer Pirogge herum. Die meisten leben vom Fischfang. Sie stecken große Palmwedel und Stöcke ins Wasser, an denen Algen wachsen, die die Fische fressen. So kreieren sie riesige Felder, in denen die Fischschwärme leben. Zur ?Erntezeit? werfen sie rings um das Feld ein Netz aus und fangen alle Fische auf einmal ein. Rufin fällt zu allem und jedem eine Geschichte ein und immer wenn er histoire sagt, müssen wir raconte rufen.
An der Herberge angekommen fühle ich mich ein bisschen überrumpelt. Da sich Ann-Sophie und Rufin seit vier Monaten kennen und gut befreundet sind, teilen sie sich ein Zimmer, Luca fährt zum Abendessen nach Hause und die restlichen zwei Belgierinnen schlafen im zweiten Zimmer. Bleiben Roger und ich. Da es zwei getrennte Betten sind, bin ich d?accord. Gewöhnungsbedürftig ist aber, dass das Bad offen ist. Auch wenn es Roger nichts ausmacht, zu pinkeln, wenn ich im Zimmer bin, ich mache das nicht. Auf gar keinen Fall. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass die anderen Mädels dabei sind und wir uns alle gut verstehen. Mit einer sehr wackeligen Pirogge lassen wir uns durch das Dorf stochern. Es erinnert mich wirklich an eine Stocherkahnfahrt, nur wackeliger. Überall ist Musik. Es ist eine Beerdigung. Hier feiern die Menschen ab einem gewissen Alter den Tod eines Menschen mit einer mehrere Tage langen Feier, weil es etwas Gutes ist, dass der Mensch so lange gelebt hat. Das finde ich eigentlich sehr schön. Zum Abendessen gibt es ? natürlich ? Reis und Fisch und zum Nachtisch Ananas. Wir fahren noch einmal mit der Pirogge durch die Wasserstraßen als es dunkel ist und man neben dem Plätschern der Toiletten, die direkt ins Wasser führen und der Musik und den Sternen nichts hört oder sieht. Nachdem ich Avaloué oder so ähnlich gelernt habe, wenn auch nicht besonders gut, und wir ein paar Runden Karten gespielt haben, gehen wir schlafen, um am nächsten Morgen um fünf auf den Markt zu stochern. Es ist komplett dunkel, man hört nur vereinzelt Hähne krähen. Auf einmal sieht man Lampions auf dem Wasser auftauchen. Sie gehören zu kleinen Piroggen. Die Menschen auf den Piroggen rufen Worte auf Fon in die Dunkelheit und man folgt dem Wort und dem Lampion, um das zu kaufen, was man haben möchte. Wir kaufen frittierte Bohnenbällchen, die sehr gut schmecken und gehen wieder ins Bett. Immer ist alles begleitet von Geschichten vom Reich der Tiere, von Königen und Prinzessinnen und warum etwas ist wie es jetzt ist.
Heute geht die Totenfeier mit viel Musik weiter und die Menschen tragen Weiß. Wir frühstücken, spielen Karten, essen zu Mittag, spielen Avaloué und essen nebenher geröstete Erdnüsse aus wiederverwendeten kleinen Glasflaschen. Ich lerne die Worte kaffin (Kakerlake), tricher (schummeln) und fesse oder so ähnlich (Hintern). Meiner ist groß genug, dass er sogar für Afrikaner akzeptabel ist. Darüber freue ich mich irgendwie nicht so sehr.
Viele hier halten es glaube ich für unhöflich, unser Französisch zu korrigieren und sie tun es deshalb einfach nicht. Rufin und Roger dagegen schon, das ist sehr gut. Wir tauschen alle Nummern aus und wollen in den nächsten Monaten in den Norden fahren, wenn es sich einrichten lässt. Roger kommt dort her und jetzt, während der Trockenzeit, kann man die meisten Tiere sehen. Hoffentlich klappt das.. Vorhin bin ich heim angekommen und kapiere noch gar nicht so ganz, dass zwei Menschen, die man so zufällig auf einer Party kennengelernt hat, so viel Zeit und Energie investieren, um uns etwas Tolles zu bieten, ohne uns überhaupt zu kennen; zumindest, was die zwei Belgierinnen und mich angeht.