Leben im Reservat

03.August 2011 - Seton Portage


Zum ungezählten Male sitze ich in Vancouver und tippe einen Bericht für meinen Blog. Dadurch dass ich in den letzten Monaten mehrfach hierher zurückgekommen bin, um einen Anlaufpunkt zwischen zwei Stationen zu haben, fühle ich mich fast wie zu Hause. Vancouver ist mir sehr vertraut geworden, ich genieße die gelegentlichen Radtouren von East Vancouver nach Downtown und kenne mich immer besser in den Straßen aus. Auch die Menschen gefallen mir, viele sind offen und freundlich, aber wie in jeder Stadt findet man auch jene, die geschäftig durch die Straßen eilen und fahrig die Außenwelt um sich herum vergessen.
Aber natürlich habe ich die letzten 2,5 Wochen nicht nur in Vancouver zugebracht, wie im letzten Bericht angedeutet, war ich viel zu verzweifelt wieder hinaus in die Natur zu kommen, um es auch nur einen Tag länger als nötig in einer Großstadt auszuhalten.

Es ging nach Seton Portage, einem kleinen Dorf, gelegen in einem Tal, zwischen zwei Seen. Die ganze Umgebung nennt sich Fraser Valley, wenn ich richtig liege, benannt nach dem Fraser River, aus dem die Wasserversorgung für British Columbia bezogen wird. Wahrscheinlich sagen euch alle diese Namen nichts, aber vielleicht habt ihr schon ein Mal von der Sunshine Coast gehört, einer Küste, die beginnt, sobald man Vancouver in Richtung Norden verlässt. Auf der Autofahrt nach Seton Portage hatte ich permanent zu meiner Linken das Meer und zu meiner Rechten die Berge, eine wundervolle Umgebung, wundervolle Landschaft.
Die Arbeit vom Wilderness Committee ist etwas verworren, man versteht nicht auf Anhieb, wie alles zusammenhängt, aber Andy hatte viel Zeit, um mich einzuweihen und ich denke, dass ich nun eine grobe Idee habe und will versuchen es euch zu erklären.
Obwohl die Arbeit unter Wwoofen fiel, hat das Wilderness Committe mit dem Programm als solches wenig zu tun. Sie haben viele verschiedenen Projekte, in denen es darum geht natürlche Lebensräume zu erhalten un d wichtige Ressourcen zu schützen. Der winzige Teil des Ganzen, der Wwoofer anheuert, spielt sich in den Reservaten ab und hat nicht nur mit der Umwelt zu tun, sondern vor allem mit den sozialen Strukturen innerhalb der Reservate.
Ich weiß, dass wir in Europa nicht viel über die Situation in Nordamerika bezüglich der indigenen Einwohner lernen, zumindest nicht in unserer Schulbildung. Wir wissen, dass die Europäer sich das Land genommen haben, was sie haben wollten und viele Einheimische mit ihrem Leben zahlen mussten. Sie wurden gejagt und abgeschlachtet, vergewaltigt und beraubt. Wir lernen in der Schule, dass der Bevölkerungsprozess Nordamerikas unschön war, aber wir lernen nichts über die Konsequenzen. Ich kann ehrlich zugeben, dass ich mir nur sehr wenig Gedanken darüber gemacht habe, was mit den verbliebenen Ureinwohnern passiert ist. Ja, sie wurden in Reservate gesteckt, das weiß man, aber was passierte dann mit ihnen? Ich glaube, ich habe von den Residental Schools berichtet in einem meiner Berichte aus Blachford und diese Schulen sind ein großer Schlüssel zu der heutigen Situation. Den Kindern und Jugendlichen, die in diese Schulen verschleppt wurden (und das war der Großteil der indigenen Bevölkerung), wurde eingehämmert, dass ihre Kultur falsch ist, dass ihr Glaube ketzerisch sei und ihre Rituale zurückgeblieben. Im Prinzip wurde ihnen deutlich gemacht, dass sie nichts weiter seien als dumme Wilde, die keinen Wert besitzen.
Die letzte dieser Residental Schools wurde in den 80ern geschlossen. Die Folgen dieser Gehirnwäsche sind unübersehbar, ich glaube, ich hatte meinen ersten kleinen Kulturschock.
Aber warum erzähle ich euch das, wo ist die Verbindung zum Wilderness Committee?
Ein großer Grund, warum ich überhaupt mit dem Wilderness Committe arbeiten wollte, war das Trailbuilding, von dem Isabel mir erzählt hatte. Mir war nicht bewusst, dass ich mich in ein Reservat begeben würde, dass das Land, auf dem die Trails liegen, das Land der Ureinwohner ist und ich direkt mit ihnen in Verbindung sein würde. Ich will es einfach machen: Das Wilderness Committee hilft der indigenen Bevölkerung in den Reservaten wieder gesünder zu werden. Es werden Gemeinschaftsgärten gepflanzt, von denen Nahrungsmittel an die Bewohner des Reservats gehen. Das soll bewerkstelligen, dass sich die Bevölkerung gesünder ernährt, denn viele Ureinwohner, die ich getroffen habe, sind sehr dick, essen viel Fast Food und machen keinen Sport. Durch gesunde Ernährung sollen sie sich besser fühlen, sodass sie früher oder später auch wieder körperlich aktiv werden, das gilt sowohl für junge Leute als auch für alte. Da die Kultur der Einheimischen in den letzten Jahrhunderten seit der Einwanderung der Europäer zerstört wurde, wird nun versucht sie langsam wieder aufzubauen. Es leben noch einige der Ältesten, die über Wissen verfügen und dieses an Kinder und Jugendliche weiterleiten. Ein großer Bestandteil der indigenen Kultur der nordamerikanischen Bevölkerung ist ihre Verbindung zu dem Land, auf dem sie leben. Ihr Glauben bezieht sich auf die Geister der Natur, Spirits of the Land, ich bin mir nicht sicher, ob das ohne Missverständnisse übersetzbar ist. De Trails, auf denen das Wilderness Committe arbeitet, sind wichtige Wege für die Ureinwohner gewesen. Wege, auf die Schüler von Schamenen geschickt wurden, um eine spirituelle Reise zu begehen, zum Beispiel.
Das Ziel ist, dass die Jugend in den Reservaten dazu motiviert wird, sich selbst in den Gärten und an der Arbeit auf den Trails zu beteiligen, aber es muss klein angefangen werden und deswegen werden zunächst Wwoofer angeheuert, um das Ganze zum Laufen zu bringen. Es ist ein langfristiges Projekt, nichts, das in ein paar Jahren funktionieren wird, sondern erst in ein paar Jahrzehnten. Die Kultur wurde lange unterdrückt, deswegen kann man kaum erwarten, dass sie sich jetzt innerhalb kurzer Zeit erholt.
Das Traurige ist, dass die Situation wirklich bedrückend ist. Ich habe 1,5 Wochen im Haus eines Einheimischen gelebt, mit seinem Neffen und seiner Tochter, anderen Wwoofern und und und. Es war wirklich eine bunte Mischung, aber die jungen Leute, die oft zum Abhängen vorbeigekommen sind, haben keine Perspektiven für ihr Leben. Sie sitzen vorm Fernseher und spielen Gewaltspiele auf der Playstation, den ganzen Tag. Sie gucken Filme oder hängen in ihren Zimmer und hören laute Heavy Metal Musik. Manche arbeiten, viele arbeiten nicht. Viele sind nicht zur Schule gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass man fast von einer Massendepression bei diesen Menschen reden kann. Es hat mich sehr bedrückt, vor allem, weil man nicht helfen kann. Ganz abgesehen davon, dass sie sich auch nicht immer helfen lassen wollen. Das Zusammenleben von Weißen und Einheimischen ist ein schwieriges Unterfangen, ich habe nur 1,5 Wochen dort verbracht, aber ich habe viel gehört und mitbekommen und das Misstrauen gegenüber Weißen ist groß. Es gibt immer wieder Vorfälle von Gewalt oder Diskriminrerung. Dennoch ist nicht alles hoffnungslos. Es gibt auch jene, die voller Tatendrang sind und Veränderung wollen.
Ich fürchte das Thema insgesamt ist zu komplex, um weiter darauf einzugehen. Ich wollte euch nur einen kleinen Einblick meiner Erfahrungen geben, denn ich denke, dass es eine sehr wichtige und interessante Zeit war, obwohl ich nicht behaupten kann, dass es immer angenehm war. Ich bin der Meinung, dass mehr Initiative von beiden Seiten aus kommen muss, mehr produktive Hilfe vom Staat und mehr Bereitschaft von den Ureinwohnern. Dennoch möchte ich nichts beurteilen, denn dafür hatte ich viel zu wenig Einblick. Ich verstehe die Situation der indigenen Bevölkerung jetzt besser und bedauere die Geschehnisse der Vergangenheit. Es ist viel Wissen verloren gegangen, viel Kultur. Die Menschen, die ich dort kennengelernt habe, haben viel zu erzählen, sie alle haben viel erlebt, viel Grausames. Und die Ältesten versuchen verzweifelt die Bräuche und das Wissen aus alten Zeiten zu bewahren, das von den Weißen so achtlos weggeworfen wurde. Es ist eine Schandeund ich hoffe inständig, dass so viel wie möglich bewahrt werden kann, dass sich die Kultur so weit es geht erholt und wieder bessere Zeiten kommen, in denen Weiße und Einheimische zusammen ums Feuer sitzen und trommeln, tanzen und singen.

Dies war eher ein Bericht von meinem Einblick in die Situation, ich werde einen weiteren folgen lassen, der sicher auch viele Eindrücke enthält, aber auch davon berichtet, was ich dort genau gemacht habe.